Roland Rainer, unverstanden

Nachlese zum Roland-Rainer-Wettbewerb 2007

Die Stadt Wien und die Bundeskammer der Architekten haben an Anfang dieses Jahres einen Wettbewerb im Gedenken an Roland Rainer, den großen Architekten, Stadtdenker, Lehrer und Forscher, ausgeschrieben. Thema: „Maßstäbe der Dichte – Formen der Privatheit, Entwürfe für eine zukunftsfähige Gartenstadt“. Im Zentrum der Auslobung stand ein programmatisches Zitat von Roland Rainer:

Die von mir seit jeher vertretenen alten Gedanken des „anonymen Bauens“ und der Gartenstadtidee bedürfen der Weiterentwicklung im Hinblick auf heutige und künftige Veränderungen der Gesellschaft, wenn diese Gedanken lebendig und produktiv bleiben sollen.

Eine wichtige Initiative, ein wichtiges Thema.

Wichtig weil: Es bis heute nicht gelungen ist, die Ursprungsidee Ebenezer Howards aus dem Jahr 1897 – die gesunde, gerechte, durchgrünte Stadt abseits der Industrien und abseits der vermeintlichen oder tatsächlichen Sündhaftigkeit der Großstadt – überzeugend und dauerhaft umzusetzen – und es ist anderseits auch nicht gelungen, diese Idee als historische Skurrilität abzuhaken, denn noch immer und immer wieder berufen sich Siedlungsprojekte aller Art auf die „Gartenstadt“. Das Bild spricht verbreitete Wohnemotionen an.

Wichtig, weil das Thema „Stadt ohne Stadt“ – also der Stadt, die nur die Vorteile der Verdichtung bietet und deren Nachteile vermeidet, ein zentrales Motiv der Suburbanisierung darstellt, eines Phänomens, das bei uns landläufig als „Zersiedelung“ wahrgenommen wird. Tatsächlich ist in unseren (Alpen-) Ländern die Gartenstadt in funktioneller Hinsicht schon großflächig verwirklicht – nur hat sie eben nicht jenes protestantisch-rationale Erscheinungsbild, das sich die Herren Howard und Unwin vorstellten.

Wichtig, weil die Qualitäten des anonymen Bauens verloren gegangen sind. Das ist nicht nur bedauernswert wegen des nun von Konsumklischees geprägten Erscheinungsbildes unserer Siedlungslandschaften, sondern – aus städtebaulicher Sicht – wegen des Verlustes der kleinteiligen und vielfältigen Stadträume, die heute, da die Stadtproduktion von Immobilienfonds und institutionellen Wohnbauträgern geprägt ist, nicht mehr entstehen. Nicht erst seit der Globalisierung des Immobilienwesens ist das Prinzip „Häuser entlang einer öffentlichen Straße“ dem Prinzip der abgeschlossenen „Anlage“ gewichen.

Wichtig, weil das Thema der städtebaulichen Dichte mit dem Argument ihrer erwiesenen ökologischen Vorteile, gepaart mit den immer schon evidenten Verwertungsinteressen, praktisch unwidersprochen zum Leitmotiv der (geplanten) Stadtentwicklung geworden ist, obwohl es offensichtlich ist, dass bauliche Dichte, in dem Maß, in dem sie gesteigert wird, zunehmend Komplementärstrukturen und –praktiken hervorbringt (Zweithäuser, Pendlerwesen, frenetische Outdoor-Aktivitäten, etc.), die den ökologischen Effekt der Verdichtung wieder vernichten.

Wichtig, weil die Menschen – vor allem die Protagonisten der Konsumgesellschaft – das Konzept der Dichte nie als Wert für sich, sondern immer nur in Abwägung der Vorteile und Nachteile von Nähe akzeptieren, und es folglich die Rolle aller an der städtebaulichen Planung Beteiligten ist, die Vorteile zu vermehren und die Nachteile zu vermindern.

Wenn nun also ein thematischer Wettbewerb – „Idealentwürfe für ein gartenstadtartiges Quartier in einer europäischen Stadt“ (Originaltext) – ausgelobt wird, so darf man sich grundsätzliche Auseinandersetzungen, Theoretisches und Utopisches erwarten, Ergebnisse, die das Europäische im europäischen Städtebau formulieren oder in Frage stellen, die das schillernde Erscheinungsbild des Vernakulären in der Konsumgesellschaft, die Einfamilienhausthematik, die Rolle der individuellen Gestaltung in den Mittelpunkt rücken, alles – nur nicht „innovative Entwürfe für die Nachverdichtung der Stadtkernzone“ (!?) – das war es nämlich, was der Jury – zehn namhaften Fachleuten – in einer Presseaussendung der Bundeskammer der Architekten am 23.2.2007 in den Mund gelegt worden ist.

Was war passiert? Einhundertachtziggradige Roland-Rainer-Rezeptionswende? Kollektive Amnesie?, Spätpubertäre Vaterfigurvernichtung?

Weiß man nicht mehr, was Rainer mit der geschoßbaufixierten und hausmeistergelenkten Wienerstadt in lebenslanger Haßliebe verband? Hat man Rainers liebevolle Ausführungen zu den Dörfern des Burgenlandes vergessen, verfaßt zur gleichen Zeit, als er als Leiter der Wiener Stadtplanung die polyzentrischen Entwicklungskonzepte für Wien ausarbeitete? Hat man die unprätentiösen, spürbar von Demokratie und Nachbarschaftsgeist durchwehten Raumstrukturen einer Gartenstadt Puchenau oder eines Tamariskenweges vergessen? Kennt man nicht mehr seine zahllosen Publikationen, die immer wieder das Thema der durchgrünten und aufgelockerten Stadt umkreisten und seine nie versiegenden Argumente, wenn es um das Hochhausthema ging?

Hätte man sich nicht, wenn man meint, die Nachverdichtung der Kernstadt propagieren zu müssen, einen anderen Patron suchen können?

Dieser verbogenen Aufgabenstellung entsprechend war das Ergebnis des Wettbewerbes enttäuschend. 26 disparate Beiträge, 3 gleichrangige Preisträger und Preisträgerinnen. Der Juryvorsitzende Carl Pruscha: „Offenbar sind Ideenkonkurrenzen dieser Art aus der Mode und die Fachwelt diesbezüglich aus der Übung. Ein alleiniger Roland-Rainer-Preis-Träger war 2007 im Sinne Rainer nicht argumentierbar.“ (Pressemitteilung vom 24.5.2007).

Die prämierten Projekte: ein Entwicklungskonzept für eine Brachlandfläche am Rand der Stadt Kiew (Gerhard Feldbacher), ein Terrassenwohnbau in einem Meidlinger Gründerzeitblock (Theresa Häfele, Julia Nuler) und  – die Überbauung des Viktor Adler-Marktes in Wien-Favoriten mit einer Penthausanlage (Ömer Selçuk Baz). Alle Projekte hätten wahrscheinlich in standortbezogenen Realisierungswettbewerben gute Figur gemacht. Doch als grundsätzliche typologische und städtebauliche Statements eignen sie sich nicht. Das hat die Jury richtig erkannt.

Eine Erkenntnis allerdings, die weder aus den Protokollen, noch aus den nachfolgenden Stellungnahmen hervorgeht, ist bis heute ausständig: Dass weder in der Phase der Ausschreibung, an der allesamt engagierte und kundige Fachleute teilgenommen haben, noch in der Beurteilung der Projekte ein gemeinsames Verständnis darüber erzielt werden konnte, welche Fragen die Themen „Gartenstadt“ und „anonymes Bauen“ im aktuellen Zusammenhang aufwerfen.

Es scheint, als hätte man in guter österreichischer Konsenstradition die wohlmeinenden Einzelauffassungen zur Thematik rein kumulativ zusammengefaßt – mit der Folge, dass kein erkennbares Anforderungsprofil entstand. So läßt sich erklären, dass auch die „Nachverdichtung“ in einen Passus der Aufgabenstellung hineingerutscht ist (Ein Jurymitglied verweist auf eine späte Aussage Rainers in diese Richtung.). So kann man letztlich auch die stark divergierenden Aussagen der einzelnen Jurymitglieder zum Ergebnis interpretieren. Kaum einer oder eine will die wahrhaft skandalöse Entscheidung, die Überbauung des Viktor-Adler-Marktes als Beitrag zur Gartenstadtdiskussion zu prämieren, vertreten.

Es scheint, als wäre Roland Rainer, der protestantisch geprägte Weltbürger, auch nach seinem Tod in der von Katholizismus und Sozialismus geprägten Realverfassung Österreichs – und den damit einhergehenden Siedlungsvorstellungen – ein großer Unverstandener.

 

archurb · 25.02.2021
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